Neue Luzerner Zeitung
Stetige Abwehr gegen Fahrende |
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Neue Luzerner Zeitung
Ausgabe vom Samstag,
02. Dezember
2000
Bergier-Kommission:
Studie über Sinti und Roma
Stetige Abwehr gegen Fahrende
Roma und Sinti waren in der
Schweiz unerwünschte Migranten nicht nur während der Kriegszeit,
sondern auch in den Jahrzehnten zuvor und danach.
VON ANDREA WILLIMANN «Die Schweiz gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den ersten
Staaten, welche die Reisefreiheit für <Zigeuner> einschränkten und
damit diskriminierende Bestimmungen schufen.» Das ist das erste Fazit der
Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiten Weltkrieg in ihrer
jüngsten Studie über die schweizerische «Zigeuner»-Politik zur Zeit des
Nationalsozialismus. Ihr zweites Fazit: Von den Prinzipien der Abwehr
gegen Fahrende habe unser Land auch im Wissen des nationalsozialistischen
Genozids an Sinti, Roma und Jenischen keinen Abstand genommen. Diesen
Schlüssen der Kommission kann man nach der Lektüre der Studie beifügen:
Auch nach der Zeit des Zweiter Welt- krieges hat sich an der
Diskriminierung der Fahrenden nichts geändert.
Bruchlose «Zigeuner»-Politik
Die Ausgrenzung der nicht
sesshaften Roma, Sinti und Jenischen in der Schweiz wird in der gestern
veröffentlichten Ergänzung zum Flüchtlingsbericht der Unabhängigen
Expertenkommission unter der Leitung von Jean-François Bergier aufgezeigt.
Die Politik gegenüber den Fahrenden war insbesondere zwischen 1906 und
1972 geprägt vom Prinzip «Abwehr statt Asyl». Ein
betrübliches Kapitel, wie die Expertenkommission mit diversen
Fallbeispielen dokumentiert: Ausländische, staatenlose und selbst
schweizerische Fahrende erhielten an den Grenzen keinen Zutritt. Gelangten
sie dennoch in die Schweiz, wurden sie wie ihre im Land lebenden
Angehörigen einem Anpassungszwang ausgesetzt: So kam es unter der Regie
der Pro Juventute bei der «Aktion Kinder der Landstrasse» zwischen 1926
und 1973 zu Familienauflösungen, Anstaltseinweisungen und Kindswegnahmen. Die Ausgrenzung, Verfolgung und Kriminalisierung
wurden durch rassenhygienische Theorien untermauert. Schweizer
Wissenschafter sagten den «Zigeunern» eine kriminelle Veranlagung nach und
verlangten Sterilisationen. Diese Massnahmen galten, wie die
Bergier-Studie zeigt, auch nach 1945 als Verbrechensprävention.
Kein Sinneswandel im Krieg
Zentral für die
Bergier-Kommission ist insbesondere die Frage nach dem Schicksal der vor
der Rassenverfolgung der Nationalsozialisten fliehenden Sinti und Roma.
Dabei stiess das international zusammengesetzte Forschergre mium auf
keinerlei Hinweise, dass Schweizer Behörden Fahrende vor der Verfolgung
geschützt und ihnen Asyl geboten hätten. Vielmehr
hielt die Schweiz ab 1942 im Wissen des NS-Genozids an der
seit 1906 geltenden Grenzsperre und anderen diskriminierenden Sonderregeln
für «Zigeuner» fest. Regeln, die wie die Bergier-Kommission aufzeigt, gar
Modellcharakter für andere Staaten hatten. Regeln aber auch, die wie
die Grenzsperre bis zu Beginn der Siebziger- jahre galten. Ihre Erkenntnisse zieht die Kommis- sion aus Akten des
Bundes und mehreren Einzelfällen. Da andere Quellen auf Grund der
verstreuten Ablage in den Kantonen fehlten und nur wenige Zeitzeugen
interviewt werden konnten, fiel das Forschungsmaterial entsprechend dünn
aus.
Teils noch offene Fragen
Dies hat zur Folge, dass die
Studie auf wichtige Fragen keine Antwort gibt: Es bleibt unbekannt, wie
viele Roma, Sinti und Jenische tatsächlich in die Schweiz flüchten
wollten. Sie gingen als «unerwünschte Ausländer» in der Masse der nicht
näher identifizierbaren Ausländer unter, zumal die «Zigeuner» keine
Flüchtlingskategorie darstellten. Die Studie liefert
auch keine Angaben zur Höhe der Vermögenswerte der Verfolgten, die das
NS-Regime als Raubgold in die Schweiz verschoben hatte.
Bundesrat empfindet Mitgefühl
Trotz der lückenhaften
Quellenlage wertet der Bundesrat die Befunde der Kommission als ergiebig
genug. Er drückt in einer Stellungnahme den Gemeinschaften der Sinti, Roma
und Jenischen sein tiefes Mitgefühl aus. Die Schweizer «Zigeuner»-Politik
während und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg stelle ein schwieriges
Kapitel dar.
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